weg zur arbeit - georg kreisler lyrics
jeden morgen gehe ich, zirka acht minuten lang
ausser wenn ich krank bin, von meiner wohnung in meine kanzlei
das ist schon seit jahren so, ich bin nicht der einzige –
für die meisten leute geht das leben so vorbei!
ich grüße freundlich die verkäuf’rin meiner zeitung
sie hat es schwer heut’ seit jenem grausigen prozess –
ihr mann ist eingesperrt wegen so mancher überschreitung!
sie wurde freigesprochen, denn sie war nicht in der ss –
obwohl sie wusste, was da vorging!
und ich grüße ebenso den friseurgehilfen navratil
der auch in der ss war – oder war es die sa?
einmal hat er angedeutet, während er mir die haare schnitt
was damals in dachau mit dem rosenblatt geschah!
er war erst zwanzig – zwölf jahre jünger als der rosenblatt!
jetzt ist er fünfzig und ein sehr brauchbarer friseur!
“grüß gott, herr hauptmann!” – der heißt nur hauptmann –
er war oberst und hat in frankreich einige zu tode expediert!
er ist noch immer spediteur – es hat sich nichts geändert!
drüben macht der hammerschlag seinen bücherladen auf
ich seh’ ihn noch heut’ vor mir, er ist damals so gerannt
und hat direkt vor seinem buchgeschäft einen scheiterhaufen aufgestellt
und hat darauf thomas mann und lion feuchtw-nger verbrannt
und erich kästner und den kafka und den heine
und viele andere, die jetzt sein schaufenster verzier’n!
und er verkauft sie mit einem lächeln an der leine
ja, er muss leben und seine kinder wollen studier’n –
er hat ja selbst den doktor!
“verehrung, herr professor – wie geht’s der frau gemahlin?
danke! – sie schau’n blendend aus – wie bleiben sie so jung?”
das war professor töpfer, seinerzeit “völkischer beobachter”
anthropologie und r-ssenkunde. jetzt ist er beim funk!
“grüß gott, herr neumann!” – der ist nichts, der ist erst dreißig!
was war sein vater? na, er war jedenfalls soldat!
“habe die ehre, herr direktor!” – der ist gute fünfundsechzig
also muss er was gewesen sein. heute ist er demokrat –
das sind wir schließlich alle!
drüben ist der eichelberger, gummibänder, hosenträger –
das war früher blau und söhne, herrentrikotage!
nebenan war das café winkelmann. der winkelmann ist noch zurückgekommen
dann ist er wieder weggefahren – jetzt ist dort eine garage!
da kommt die schule, da bin ich selber hingegangen
mein deutschprofessor bezieht noch immer dort gehalt
der schrie: “heil hitler!” – nun, das wird er heute nicht mehr schrei’n!
was nur die kinder bei dem lernen? vielleicht vergessen sie es bald –
ich kann es nicht vergessen!
so, jetzt bin ich endlich in meine kanzlei gekommen
setz’ mich an den schreibtisch und öffne einen brief –
doch bevor ich lesen kann, muss ich erst die richtung ändern
bl!cke rasch zum himmel auf und atme dreimal tief
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